Am nächsten Morgen hat sich der Rücken gemeldet. Warum, kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Meine viel größere Sorge galt allerdings dem dahinschwindenden Wasservorrat. Das Wasser auf dem Klo des Zuges sah sehr vertrauenserdrückend aus. Darum entschied ich mich zu warten, bis wir in Paris ankommen. Plötzlich fragte mich mein Abteilkollege, ob ich ihm helfen könnte, das Bett hochzuklappen… und zwar auf Deutsch! Den Abend zuvor hab ich ihn noch für einen Penner gehalten. Seine Kleidung war von Löchern übersät und besonders gepflegt sah er auch nicht gerade aus. Mit der Zeit kamen wir ins Gespräch und ich bedauerte schon bald, dass die Zugfahrt nur noch ein paar Stunden dauert. Wie sich herausstellte, ist er schon wahnsinnig viel in der Welt herumgekommen. Wir erzählten über Gott und die Welt. Dinge, für die jeder „vernünftige“ Mensch nur wenig Verständnis hat. So zum Beispiel über den Stellenwert der Arbeit in unserem Leben und die Probleme, die mit der Konsumgesellschaft einhergehen.

Die Zeit verging viel zu schnell und ehe wir uns versahen, befanden wir uns auf dem Pariser Bahnhof. Der Anschlusszug nach Bayonne fuhr jedoch auf einem anderen Bahnhof ab. Man kann entweder die Metro nehmen, oder die 5km zu Fuß laufen. Zum einen konnte ich mich mit der Vorstellung, unter einer Stadt wie Paris einfach hindurch zu fahren, nicht anfreunden. Und zum anderen waren es ja nur läppische 5km. Auf dem Jakobsweg würde ich jeden Tag mindestens 30 km laufen. Bevor ich mich von meiner Zugbekanntschaft verabschiedete, zeigte er mir noch die grobe Richtung. Mehrmals musste ich nach dem Weg fragen, was aber bei den unzähligen englischsprachigen Franzosen überhaupt kein Problem war und richtig viel Spaß gemacht hat. Ungefähr genauso viel, wie sich am ersten Ferientag das Bein zu brechen.

Seit etlichen Stunden habe ich jetzt schon nichts mehr getrunken. Da kam der kleine Getränkeladen auf dem Weg gerade recht. Und schon kurz nachdem ich dem netten Herrn auf Englisch erklärt habe, dass ich eine Flasche Wasser kaufen möchte, hat mich eben dieser mit wild umher fuchtelnden Armen wieder aus seinem Laden geschmissen. Ein Hoch auf die französische Gastfreundschaft! Eine viertel Stunde später kam der nächste Getränkeladen. Dieses Mal habe ich aus meinem Fehler gelernt: einfach eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank nehmen, auf den Tresen knallen und 2 Euro hinlegen. Die Verkäuferin guckte mich zwar mit großen Augen an, gab dann aber, ohne ein Wort zu sagen, das Wechselgeld raus. Geht doch!

Nachdem ich 2 Stunden durch die Straßen geirrt bin, war der Bahnhof endlich in Sicht. Grade noch rechtzeitig. 10 Minuten später und der Zug wäre ohne mich abgefahren. Völlig durchgeschwitzt bin ich durch den überfüllten Zug gestapft, auf der Suche nach Wagon 5, Platz 17. Allerdings war jeder Platz 17 in allen Wagons bereits besetzt. Irgendwann hatte ich die Schnauze voll und fing mit dem Herrn an zu diskutieren, der auf „meinem“ Platz saß. Er in Französisch. Ich in Englisch. Für Außenstehende war das sicher ein prächtiger Anblick. Nach einer Weile stellte sich heraus, dass mein Zugticket auf den vorigen Tag ausgestellt war. Ich habe es zu Hause bei der Deutschen Bahn gekauft – zusammen mit der Fahrkarte nach Paris. Leider hat weder die gute Dame von der DB, noch ich gemerkt, dass das Datum falsch ist. Eine Französin bemerkte meine missliche Lage und bot mir den freien Platz neben sich an. Dank ihres Deutschstudiums konnte sie fließend Deutsch sprechen. Falls der Schaffner Probleme machen würde, wollte sie die Dolmetscherin spielen. Auf der 5 stündigen Fahrt hat sie sich des  Öfteren die Beine vertreten. Bei meinem Glück natürlich auch dann, als der Schaffner kam. Ohne Dolmetscherin an meiner Seite hatte ich schon leichte Schweißperlen auf der Stirn. Aber das Glück war mir hold. Er lochte die Karte und ging weiter. Puh… auf ein weiteres Streitgespräch in Englisch-Französisch hatte ich wahrlich keine Lust.

Gegen Abend ging auch diese Zugfahrt zu Ende. Auf dem Bahnhof entdeckte ich schnell einige Jakobsmuscheln, die an Rucksäcken baumelten. DAS Erkennungsmerkmal eines jeden Pilgers. Sie waren erfreulicherweise aus Deutschland. Nach einem so anstrengenden Tag tat es gut, sich mit jemandem in der Muttersprache auszutauschen. Während wir mit der kleinen Bimmelbahn das letzte Stück nach Saint-Jean-Piet-de-Port fuhren, unterhielten wir uns hauptsächlich über die Ausrüstung, wieviel Zeit jeder hat und was die Beweggründe waren, auf dem Jakobsweg zu pilgern. Einige von ihnen waren religiös motiviert, andere wiederum wollten einfach nur Land und Kultur kennenlernen. Bei mir war es eine Mischung aus letzterem und der sportlichen Herausforderung – ich liebe es, meinen Körper an seine Grenzen zu treiben und diese durch das Training immer weiter zu verschieben.
Schaute man aus dem Fenster, bot sich ein atemberaubender Anblick. Für mich als Landei aus dem flachen Mecklenburg-Vorpommern bekam „Berg“ eine völlig neue Bedeutung.

In weiser Voraussicht hatten alle anderen schon ein Bett in einer der vielen Herbergen, oder „Albergue“ wie sie hier heißen, reserviert. Denn an den meisten Türen hingen bereits Schilder mit der Aufschrift „Completo“. Ich konnte zwar kein spanisch, aber es war nicht allzu schwer zu erraten, dass dort schon alles voll war. Nach einiger Zeit fand ich letztlich doch noch etwas. Ich hatte gar keinen Gedanken mehr daran verschwendet, wie ursprünglich geplant, im Freien zu schlafen. Zu anstrengend waren die letzten eineinhalb Tage. Für 7 Euro gab es ein wunderbares Bett. Und überhaupt war die Herberge in einem tadellosen Zustand. Scheint sich eine Menge getan zu haben, seit Hape Kerkeling vor 11 Jahren gepilgert ist. Gerade als ich dabei war meinen Rucksack auf dem Bett auszupacken, kam eine aufgeregte Herbergsmutti ins Zimmer und gab mir zu verstehen, umgehend das Zimmer zu verlassen. Ich befürchtete schon, sie schmeißt mich raus. Wie sich herausstellte, wollte eine Pilgerin mit mir das Zimmer tauschen, um nicht von ihrem Mann getrennt zu sein. So kam es, dass ich Mayen aus Dänemark kennenlernte. Wir erzählten noch bis spät in die Nacht. Am nächsten Morgen wollen wir zusammen aufbrechen.

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