Mann, war die Nacht kalt! Das Temperaturlimit des Schlafsacks beträgt laut Hersteller -5°C. Am Arsch! Ich hab alle Sachen anziehen müssen, die im Rucksack waren: ein T-Shirt, Pullover, eine Jacke, kurze Hose, lange Hose, 2 Paar Socken, Mütze und einen Schal. Dann, aber auch nur dann, kommt man auf einen Wert der dem empfohlenen Temperaturbereich auch nur ansatzweise gerecht wird. Wer jetzt denkt „was so wenig Sachen, wie eklig“ – den kann ich beruhigen. Ich hatte durchaus noch eine zweite Unterhose dabei.

Das Ziel für heute heißt Pamplona. Die Stadt, in der jährlich der berühmtberüchtigte Stierlauf stattfindet. Leider waren wir 2 Monate zu früh da, sonst hätten wir ja sooo gerne mitgemacht. Auf dem Papier war es eine ziemlich einfache Etappe von läppischen 20km. Erfreulicherweise konnte ich dank der Kniebandage das Tempo von Eddie und Ian mitgehen. Unterwegs trafen wir noch eine Weltberühmtheit – und zwar keinen Geringeren als Jackie Chan! Ok ok, das war geflunkert. Aber er könnte ohne Probleme als sein 30 jähriges Double durchgehen. Eddie konnte sofort sagen, aus welchem Land er stammt. Jackie ist Südkoreaner und heißt mit bürgerlichem Namen Lee. Und als ob diese prominente Bekanntschaft nicht schon genug der Ehre wäre, kommt ein paar Minuten später sein Kumpel um die Ecke. Ein waschechter Kim Jong Un Verschnitt. Leider hab ich kein Bild von ihnen. Das wär eines für die Geschichtsbücher. Als Kim plötzlich anfing, Deutsch zu reden, fiel mir glatt die Kinnlade runter. Das kommt nicht von ungefähr, sondern rührt von seinem Studium in Berlin. Wie klein die Welt doch ist!

Bei unserem zweiten Frühstück in einer kleinen Bar kamen wir mit ein paar Australiern in Gespräch. Und zu meiner Erleichterung kann ich ihr Englisch problemlos verstehen. Ganz im Gegensatz zu Eddie’s und Ian’s teilweise ziemlich fiesem Akzent. In den letzten Tagen hab ich nämlich schon ernsthaft an meinen Englischkenntnissen gezweifelt. Während wir so plauderten, setzte der Regen wieder ein. Der Weg war ohnehin noch ziemlich aufgeweicht, verwandelte sich jetzt aber in eine einzige riesige Modderpfütze. So ein paar neunmalkluge Pilger haben einen Umweg über die angrenzenden Straßen genommen. Das kann ja jeder! Hier im Matsch steppt der Bär. Das war unter anderem einer der Momente, in denen ich extrem froh war, einen Wanderstock zu haben. Ohne ihn hätte ich an dem Tag mindestens zwei Schlammbäder genommen.

Als wir in Pamplona ankamen, begrüßte uns die Stadt mit dem schönsten Sonnenschein. Durch ein Tor in der Stadtmauer gelangten wir in die Altstadt, wo sich die öffentliche Herberge befand. Von innen sah sie wie eine umfunktionierte Kathedrale aus. Nachdem man sich ein Bett gesucht hat, führt der nächste Gang für gewöhnlich unter die Dusche. Das Highlight des Tages! Den ganzen Dreck und Gestank den Abfluss runterspülen. Wie die Tage zuvor, hab ich alle Wertgegenstände in eine Tüte gepackt und mit in die Duschkabine genommen. Irgendwie muss die Gravitation auf diesem Quadratmeter Fleckchen Erde besonders hoch gewesen sein. Ehe ich reagieren konnte, krachte die Tüte samt Handy und Kamera auf die Fliesen. Das Handydisplay hatte jetzt die Spiderman-App drauf. War mir aber relativ egal, weil es noch funktionierte. Hauptsache die Kamera geht noch. Powerknopf gedrückt – nichts passiert. Verdammt! Nichts wäre schlimmer als keine Fotos von der Reise machen zu können. In alter Gameboy-Manier einmal das Spiel – hier den Akku – rausgenommen, reingepustet und den Akku wieder reingesteckt. Et voila. Die Kamera war wieder zu neuem Leben erwacht.

Zum Abend haben wir uns überlegt, in ein schönes Restaurant zu gehen, welches uns ein anderer Pilger empfohlen hat. Wir waren erst ein paar Schritte aus der Herberge, als wir uns fragend anguckten, wo es eigentlich langgeht. In dem Moment kam Stuart, ein Neuseeländer, um die Ecke. Wir haben ihn schon einmal am Ortseingang von Zubiri getroffen. So wie ich ihn verstanden hatte, will er den gesamten Jakobsweg in nur 20 Tagen gehen. Nachts schläft er unter dem Sternenhimmel in seiner Hängematte. Irgendwie hatte er was Mystisches an sich. Nicht ganz das richtige Wort, aber mir fällt gerade kein passenderes ein. Um seine Orientierungsfähigkeiten war es jedoch nicht so gut bestellt. Mit militärischer Präzision hat er uns zielsicher in die falsche Richtung geschickt. Dafür kann ich jetzt behaupten, die halbe Stadt gesehen zu haben. Auf dem Weg kamen wir an dutzenden Restaurants vorbei, nur unseres war nicht in Sicht. Nach 2 Stunden haben wir es dann doch noch endlich gefunden. Außer uns waren nicht sehr viele Pilger unter den Gästen. Zwischen all den schick gekleideten Leuten kamen wir uns irgendwie komisch vor. Der Kellner breitete eine einfache Wegwerf-Tischdecke auf unserem Tisch aus. Alle anderen Nicht-Pilger-Tische hatten feine Stofftücher bekommen. Anscheinend werden wir für dreckige, unzivilisierte Barbaren gehalten. Um genau zu sein, Barbaren die mit der Kamera ihr Essen fotografieren. Ja, es ist wahr! Die Chinesen machen sogar Bilder von ihrem Essen. Keine Seltenheit, wie mir Eddie beteuerte. Stolz erzählte er mir, wie er die Bilder bei Facebook mit seinen Freunden teilt. Handelt es sich um was selbst Gekochtes, geht dann meist eine Diskussionsrunde über die Zubereitung los. Ich fand’s einfach nur urkomisch und hab erst gar nicht versucht, mir das Lachen zu verkneifen.

Als wir gehen wollten, winkte mich eine ältere Dame zu sich an den Tisch. Sie heißt Cecilia und war eine Hippitante wie sie im Buche steht. Was sie genau wollte, weiß ich gar nicht mehr. Ich war viel zu sehr darauf bedacht, so schnell wie möglich wieder abzuhauen. Die Frau war mir ein wenig zu krass. Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor, der von seiner Oma von oben bis unten betätschelt wird. Fehlte nur noch, dass sie mir in die Wange kneift und fragt, ob ich ihr die Hornhaut von den Füßen raspeln kann. Bevor Schlimmeres geschah, habe ich schnell den Rückzug angetreten.

Ab 21 Uhr füllten sich die Straßen mit Leuten. Aber zu keiner Zeit war es hektisch, wie man es vielleicht aus deutschen Großstädten kennt. Ganz im Gegenteil, die Atmosphäre war total entspannt. In einem Outdoorladen hat sich Eddie einen neuen Wanderstock aus Karbon gegönnt. Seinen alten aus Holz hat er mir geschenkt. Wobei „alt“ in diesem Fall 5 Tage heißt. Ich ließ es mir nicht nehmen ein T-Shirt mit dem Aufdruck „El Camino de Santiago“ und eine Jakobsmuschel zu kaufen. Damit auch der Letzte Hansel weiß, dass ich ein Pilger bin. Nur für den Fall, dass jemand den riesigen roten Rucksack übersieht. Zudem holte ich mir noch ein kleines Etui mit Nadeln und Faden, sowie eine Flasche Jod, um die Blasen an den Füßen zu behandeln. Die Angst vor dem ach-so-bösen Faden in der Blase hatte ich bereits nach dem ersten Tag in Roncesvalles verloren. Man muss halt nur darauf achten, alles gut mit Jod zu desinfizieren.
Der Inhaber des Ladens war ein netter und vor alldingen redseliger Mann. Er gab uns viele nützliche Informationen für die nächsten Etappen mit auf den Weg. Die zwei wichtigsten waren, dass das Terrain flacher werden soll und dass man in den Herbergen Betten reservieren kann. Das bedeutet, dass man länger wandern kann und sich nicht mit den anderen Pilgern um ein Bett prügeln muss. Denn später als 15 Uhr sollte man ohne Reservierung nicht ankommen, weil dann meistens schon alles belegt ist. Und wir befanden uns noch nicht einmal in der Hochsaison. Im August sind ungefähr 4x so viele Pilger unterwegs. Aus dieser Not heraus sind übrigens die sogenannten Nachtwanderer geboren. Diese sehr spezielle Art des Pilgers steht mitten in der Nacht auf, um schon am Vormittag an seinem Zielort anzukommen. Für die anderen Leute im Schlafsaal ist dieser Umstand dann besonders lustig, wenn der Nachtpilger extrem laut raschelnde Tüten zum verstauen seiner Siebensachen nimmt.

Als wir wieder draußen auf dem Marktplatz waren, sagte Ian noch, dass irgendetwas fehle. Vor einer Woche hat er auf dem Londoner Flughafen einen Inder getroffen, der ihn seitdem zu verfolgen scheint. Wir machten gerade unsere Späße, dass die Serie nun wohl ein Ende hat, als sich plötzlich ein Taxi einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Es war übrigens das einzige Auto auf dem Platz, denn normalerweise herrscht dort verkehrsfreie Zone. Und wer steigt aus dem Taxi? Ein breit grinsender Manjit. Der Manjit, den Ian seit nun 6 Tagen mindestens einmal täglich getroffen hat. Wir konnten es gar nicht fassen und fingen alle laut an zu lachen.

So schön es auch war, der Tag neigte sich so langsam dem Ende zu. Ich lag erst um 23 Uhr im Bett. Der Gedanke an die bevorstehenden flachen Etappen gab mir wieder Hoffnung, es doch noch in den verbleibenden 20 Tagen nach Santiago zu schaffen.

 

 

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