Der Wecker klingelte schon um 5 Uhr. Meinen Plan, Santiago rechtzeitig zu erreichen, hab ich noch nicht aufgegeben. Es hing allerdings davon ab, ob die Füße mitspielen. Leise hab ich mich aus dem Schlafzimmer gestohlen. Die morgendliche Routine mit Frühstück, Badbesuch und Rucksack packen, dauerte meistens eine gute Stunde. In dem Punkt habe ich die belgischen Ex-Soldaten wirklich beneidet. In 5 Minuten sind sie zum Aufbruch bereit. Spanien liegt in derselben Zeitzone wie Deutschland, ist aber über 1000 Kilometer weiter westlich gelegen. Deswegen ist es morgens recht lange dunkel. Im Schimmer der Straßenlaternen hab ich also versucht, die kleinen gelben Wegweiser zu finden. Zum Teil sind diese schon recht ausgeblichen und auch bei Tageslicht nur schwer zu erkennen. Gerade als ich planlos an einer Weggabelung stand, überholte mich ein Rucksackträger. Perfekt, dann kann er die Arbeit machen und ich bräuchte nur hinterherzulaufen. Er schien sich gut auszukennen. Ungefähr 10 Minuten später ist er an seinem Zielort angekommen – einer Bäckerei. So ein Mist – war gar kein Pilger! Da ich keinen blassen Schimmer hatte wo ich war, blieb nur der Rückzug zur Herberge, um von dort aus erneut zu starten. Auf halbem Wege kamen mir die drei Belgier entgegen. Sie wussten im Gegensatz zu mir ganz genau wo es langgeht. Neugierig haben sie gefragt wo ich herkomme. „Vom Bäcker“ hab ich wahrheitsgetreu geantwortet. Dass ich nicht da war, um Brot zu kaufen, hab ich gekonnt verschwiegen.

Strammen Schrittes sind wir gemeinsam durch die Ortschaft gegangen. Für meine Füße war das Tempo viel zu hoch. Um sie nicht noch weiter zu demolieren, ließ ich die drei ziehen. Kurz hinter Estella befand sich eine Trinkstelle, was an sich nichts Ungewöhnliches ist. Alle paar Kilometer hat man normalerweise die Möglichkeit, seine Trinkflasche wieder aufzufüllen. Deswegen war ich zuerst auch ein wenig über die Menschenmassen verwundert. Bis ich dann den Grund von Kim Jong Un erfuhr, der ebenfalls in der Schlange stand. Hier gibt es kein nach Chlor schmeckendes Wasser, wie es in Spanien typisch ist, sondern Rotwein. Ja, richtig gelesen, Alkohol! Ich als anonymer Anti-Alkoholiker hab nur geschmunzelt und bin weiter Richtung Berge gegangen. Das Wetter zeigte sich heute wieder von seiner besten Seite. Der Schweiß lief nur so den Rücken runter. Während ich mich den Berg hochkämpfte, kam mir der Australier entgegen, der mir noch vor 2 Tagen gezeigt hat, wie man den Rucksack richtig einstellt. Für ihn war Schluss. „Fuck this shit! I’m done!“ war die Kurzfassung. In den letzten Tagen ist er mit seinen Freunden von einem Dorf zum nächsten gehetzt. Das will er sich nicht länger antun. Déjà-vu – genau das hatte ich auch vor! Von einem Ort zum nächsten jagen. Von morgens bis abends wandern, mindestens 35km. Am Ende des Tages total erschöpft ins Bett fallen und weder Lust noch zu Zeit haben, irgendetwas anderes zu tun. Mein Entschluss stand fest: ich lass es dieses Jahr ruhig angehen, hab meinen Spaß, und komm 2014 wieder. In Villamayor de Monjardín müsste ich nur warten, bis mich Eddie und Ian einholen. Gesagt, getan! Darauf kann man sich auf dem Camino immer verlassen – dass man den Leuten immer wieder über den Weg läuft. Bei einigen Personen verflucht man diese Besonderheit, aber in diesem Fall waren Eddie, Ian und meiner einer heilfroh, als wir uns wiedersahen. Ich hab ihnen sofort von dem Australier und meiner Entscheidung berichtet. Gemeinsam haben wir uns bei der Herberge eingeschrieben. Eine junge Familie mit Baby im Rucksack kam eine Stunde später an und stand vor dem Problem, dass bereits alle Betten vergeben waren. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als in der Hitze weiterzulaufen. Dem kleinen Knirps auf Papas Rücken störte das, der guten Laune nach zu urteilen, nicht. Lustig fand ich den Holländer, der ebenfalls in unserer Albergue abgestiegen ist. Man könnte jetzt spöttisch sagen, dass sich ein Holländer nicht wohl fühlt, wenn er ohne Anhänger in den Urlaub fährt. Denn auch er zog einen kleinen Wagen hinter sich her, anstatt sein Gepäck auf dem Rücken zu tragen. Jawoll! Klischee erfüllt!

Zum Abendbrot saßen alle Pilger zusammen. Die Herbergsmutti hat Bibeln in den jeweiligen Sprachen verteilt und erzählte uns was vom Fuchs. Sorry, wenn ich da nicht mitgemacht habe – aber das war mir dann doch ein bisschen „too much“. Nach dem Hokuspokus konnten wir uns endlich den Bauch vollschlagen. Fleisch gab es leider nicht. Was hätte ich nur für ein schön saftiges Steak gegeben! Dafür war Salat im Überfluss vorhanden. Schon wieder Grünzeug. Was ich früher – also vor 9 Tagen – nur aus sicherer Entfernung betrachtet hätte, schmeckte auf einmal richtig gut. In der Hinsicht hat sich mein Leben definitiv nachhaltig verändert: war die Speisekarte in Restaurants früher fast leer, befinden sich jetzt eine Unzahl leckerer Gerichte darauf. Die spanische Küche wirkte sich jedoch auch in anderer Form aus: ich hatte andauernd Blähungen. Um nicht allein am Tisch zu sitzen, hab ich es der Höflichkeit halber wenigstens da zurückgehalten. Apropos Manieren: als mich jemand am anderen Ende des Tisches etwas fragte und ich nur „WHAAAAAAT?!“ zurückgebrüllt hab, machte mich Ian laut lachend darauf aufmerksam, dass es ein einfaches „Sorry?“ auch tun würde. Gut, ist mir auch recht.

Nach dem Essen haben wir uns noch ein wenig die Beine vertreten. Wir bewegen uns ja auch so wenig am Tag. Hinter der Herberge befand sich ein Berg, auf dem eine alte Burgruine steht. Auf dem Weg nach oben trafen wir einen Imker in Schutzkleidung und mit einer Sprühflasche Gas gegen die Bienen bewaffnet. Was er in einer Flasche mit sich rumtrug, produzierte mein Magen am laufenden Band. Die Leute, die hinter mir gingen, taten mir immer ein bisschen leid. Aber wie meine Oma immer zu sagen pflegt: „Alles raus, was keine Miete zahlt!“. Als abzusehen war, dass wir es nicht vor Einbruch der Dunkelheit schaffen würden, kehrten wir wieder um. Gerade noch rechtzeitig kamen wir in der Herberge an, bevor es wie es Eimern anfing zu regnen. Darth Vader, oder ein ferner Verwandter von ihm, schlief bzw. schnarchte ebenfalls bei uns im Zimmer. In diesem Sinne, gute Nacht.

 

 

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