Noch ein wenig vom gestrigen Tag geschlaucht, ruderten wir wieder ein wenig mit der Kilometeranzahl zurück. Es sollten heute nur 24 km werden. Die hatten es aber auch in sich. Der erste Teil des Weges war asphaltiert – der Albtraum eines jeden Wanderers. Man glaubt gar nicht, wie groß der Unterschied zu einem Schotterbelag ist. Jede noch so kleine Erschütterung geht 1:1 in die Gelenke über. Meine Füße sind nach einer Stunde total verkrampft gewesen, sodass nur noch eine Aspirin half. Wenn man nämlich versucht ein Körperteil zu schonen, indem man eine ungewohnte Gangart einnimmt, macht man meist noch mehr kaputt. Das musste Stuart am eigenen Leib erfahren, der durch eine Blase am Fuß leicht anfing zu humpeln und damit seine Hüfte in Mitleidenschaft gezogen hat.
Das nun folgende Teilstück führte uns 18 km ohne Zwischenstopp durch die spanische Meseta, was so viel wie Hochebene bedeutet. Auf einer Höhe von 500-700m ist sie für ungefähr 200 km ein berüchtigter Bestandteil des Jakobsweges. Viele Pilger fürchten sie wegen der kargen und sehr dünn besiedelten Landschaft und manche von ihnen übersprangen sie gänzlich per Bus. Die Eintönigkeit kann einen schnell wahnsinnig machen; die verborgensten Gedanken schießen einem durch den Kopf. Ich möchte nicht wissen, wie heiß es hier im Sommer wird und damit lebensfeindlich. Es gibt so gut wie keinen Schatten und die Versorgungslage mit Wasser ist ausgesprochen schlecht. Die meiste Zeit ging ich mit Stuart. Liz war weit abgeschlagen und unsere rasende Holländerin hatte sicher schon einen riesen Vorsprung. Unterwegs wurden wir von einem Pilger ohne Gepäck überholt. Ich hatte schon gehört, dass es ein Shuttle Service für Rucksäcke gibt, aber noch nie jemanden tatsächlich ohne einen wandern sehen. Ein völlig skurriles Bild, das irgendwie falsch wirkte – so als ob er schummelt. Für mich war das kein Pilger sondern ein Spaziergänger. Viele denken anders darüber, aber für mich gehört der Rucksack zum Wanderer, wie der Schnee zum Winter.
Nach ungefähr 4 Stunden hatten wir den schlimmsten Teil geschafft und standen vor der Herberge von Calzadilla de la Cueza. Inständig hofften wir, dass Eszter derselbe Gedanke kam und nicht wie geplant nach Ledigos gegangen ist. Der Herbergsvater blätterte durch die Bettenliste; ihr Name war leider nicht darunter. Wir warteten noch auf Liz und zogen dann zu dritt los. Nur noch 6 km, dann ist auch dieser Tag geschafft! Es ist immer wieder lustig, wenn man daran denkt, wie wenig man eigentlich zu Hause geht. Ich könnte wetten, dass viele Leute nicht einmal einen Kilometer pro Tag gehen. Was genau genommen völlig unserer Evolution widerspricht. Der Mensch hat vor 2 Millionen Jahren erstaunliche Fähigkeiten, aber auch eine Anatomie und Physiologie
entwickelt, die uns zu hervorragenden Langstreckenläufern macht. Wir wurden keine Sprinter, wie die meisten Säugetiere, sondern ausgezeichnete Ausdauerläufer. Der Mensch hat schon lange große Tiere gejagt und gegessen, bevor die ersten einfachen Werkzeuge und Waffen vor 300.000 Jahren eingesetzt wurden. Seine Strategie war so simpel wie effizient: er hetzte seine Beute zu Tode. Dabei wurde das Tier pausenlos verfolgt, wodurch es keine Möglichkeit bekam, die Körpertemperatur wieder zu senken. In diesem Fall ist der Mensch dem Tier weit überlegen: wir sind die stärksten schwitzenden Lebewesen der Welt. Übrigens wurde diese sogenannte Ausdauerjagd bis in die 80er von den Jägern der Kalahari Wüste praktiziert. Danach wurden auch sie lauffaul und stiegen auf Gewehre um.
Genug von dem kleinen Exkurs in die menschliche Evolution und zurück nach Spanien. In unserer Herberge, oder Hobbithöhle wie ich sie wegen der geringen Deckenhöhe liebevoll nannte, schmiedeten wir einen Plan für die nächsten Tage. Es stand mittlerweile fest, dass ich meine Reise in León beenden werde. Die Stadt hat einen Flughafen und so könnte ich nächstes Jahr nahtlos dort anknüpfen, wo ich dieses Jahr aufhöre. Eszter ihrerseits hat sich in den Kopf gesetzt, in den 2 Wochen die ihr noch blieben, bis nach Santiago zu laufen. Das würde einem Tagespensum von 30 km entsprechen. Für Liz waren diese Distanzen unmöglich. Vor 20 Jahren hatte sie einen Autounfall, der ihre Hüfte nachhaltig beschädigt hat. In den letzten beiden Tagen hat sie die alte Verletzung wieder deutlich gespürt. Der Kompromiss bestand darin, die verbleibenden 75 km bis nach León auf 3 Tage aufzuteilen. Wobei es morgen nur 21 km sein werden – sozusagen als Ruhetag.
Beim Abendessen merkte auch ich, dass ich ebenfalls an meine Grenzen gestoßen bin. Nur mit allergrößter Mühe gelang es mir wach zu bleiben, um nicht mit dem Gesicht auf den Teller zu knallen.