Ohne Frühstück zu essen, machte ich mich beim ersten Tageslicht auf die Socken, um wieder zu Gelati aufzuschließen. Er schlief noch seelenruhig in seiner Hängematte, als ich ankam. Das Highlight des Tages war Harpers Ferry, was von vielen für die 50% Marke des Trails gehalten wird. Die liegt zwar ca. 60 Meilen weiter nördlich, tut dem ganzen Trubel um die Stadt aber keinerlei Abbruch. Nicht nur hat sie eine unglaubliche historische Hintergrundgeschichte. Dort werden auch seit den späten 70er Jahren Fotos von den Wanderern gemacht, die es bis dahin geschafft haben. Die alten Fotos von vor über 30 Jahren anzusehen war schon irgendwie merkwürdig. Und nun sind dort auch die Bilder von Gelati und mir verewigt. Die “Two Bad Dogs“ trafen wir zu unserer freudigen Überraschung ebenfalls wieder. Wir dachten nämlich, dass uns die beiden schon weit voraus sind. Wir unterhielten uns eine ganze Weile mit den beiden, bevor wir uns am späten Nachmittag wieder auf den Weg machten, um die 6 Meilen zum nächsten Shelter zu gehen. Von weitem war schon das heranrollende Gewitter zu sehen. Unter dem Blätterdach der Bäume fühlte ich mich aber schon viel sicherer als noch zu Beginn des Trips. Damals hätte ich sicherlich nicht die Stadt verlassen, um zu wandern. Nur beim Beginn des Aufstiegs auf einen Berg bevorzugte ich es, lieber im flachen Gelände zu bleiben und abzuwarten, bis das Gewitter vorbei war. Denn warum sollte ich mich unnötigerweise in gefährlicheres Terrain begeben?!
Heute war mein 2 monatiges Jubiläum! Das Geschenk an mich selbst war das Nicht-Antreten der über 70 km langen “4 State Challenge“. Bei angenehmen 18°C wäre das eventuell zu schaffen gewesen, nicht aber bei diesen mörderischen Temperaturen. Zum Glück haben wir die Tage zuvor genug Kilometer geschrubbt, sodass wir in keine zeitliche Not kamen. Und weil ein Geschenk nicht genug war, hab ich um Haaresbreite fast meine erste Blase unterm Fuß bekommen. Schuld waren die Socken, die zum einen verdammt dreckig waren, und zum anderen total nassgeschwitzt. Morgen muss ich auf jeden Fall sehr aufpassen, dass es nicht schlimmer wird. Davon mal abgesehen, gab es heute gleich 2 Sehenswürdigkeiten zu sehen: den Kriegsschauplatz des damaligen Bürgerkriegs und dann auch noch das erste fertiggestellte Denkmal zu Ehren von George Washington. Kurz vor Wander-Feierabend wurde es für einen Moment brenzlig. Anstatt des üblichen Knarzens der Bäume, gab es ein lautes Knacken. Ich guckte nach blitzartig nach oben und sah, wie sich der Baum meinem Gesicht schneller näherte, als mir lieb war. Drum nahm ich die Beine schleunigst in die Hand und legte einen Sprint ein. 2 Sekunden später krachte es laut hinter mir und auf dem Boden lag der Übeltäter. Das klingt zugegebener viel gefährlicher als es tatsächlich war. Der Baum war gerade mal geschätzte 5 m hoch und hätte mich zwar auf den Boden geworfen, aber mehr auch nicht (hoffe ich). Ich weiß nicht warum, aber ich fand die Situation einfach nur zum Brüllen komisch und misste laut anfangen zu lachen. Wie groß ist schon die Chance, dass einem sowas passiert?
Auf diesen Tag hat sich Gelati schon lange gefreut. Denn heute haben wir weiblichen Besuch von seiner Freundin gekriegt. Auf dem Weg in die Stadt war er kaum zu bremsen. Mit einem Wahnsinnstempo ist er vorausgeeilt und wartete dann und wann auf mich, wenn er etwas aß. Wir waren schon kurz vor der Straße, wo es nach Waynesboro ging, als wir ein Schild sahen, auf dem stand: “Trail-Magic in 200 m“. Mehrere Leute haben zusammen ein großes Angebot an Früchten, Keksen, Chips und kalten Getränken aufgetischt, während auf dem Grill Würstchen gegrillt und Bohnen im Topf warm gemacht wurden. Indes hatte Gelati erfahren, dass der Flug seiner Freundin nach verschoben wurde und wir noch mindestens 4 Stunden Zeit haben. Nach der deftigen Mahlzeit sind wir in die Stadt getrampt und besuchten als erstes die Post. Für mich warteten dort u.a. brandneue Schuhe. Die alten haben inzwischen fast 1400 km auf dem Buckel. Diesmal hab ich das Vorgänger-Modell in einer Nummer kleiner bestellt. Hoffentlich stoßen die Zehen auf den Bergabpassagen nicht vorne an. Sonst verlier ich wieder die Zehennägel wie letztes Jahr in den zu kleinen Stiefeln. Um nicht untätig herumzusitzen, gingen wir in den Walmart Supermarkt und haben unser Essen für die nächsten 60 Meilen gekauft. Während ich damit beschäftigt war, alles im Essenssack zu verstauen, kam Gelati mit einem älteren Herrn namens Roger ins Gespräch. Er bot uns an, uns zum Hotel zu fahren, wo Gelati ein Zimmer für sich und seine Freundin reserviert hat. Ich wollte kein Geld für eine Übernachtung ausgeben und fragte, ob man irgendwo in der Stadt sein Zelt aufbauen kann, ohne Ärger zu bekommen. Seine Ehefrau Kathy, die derweil dazugestoßen war, fragte, ob ich nicht bei ihnen schlafen will. Das Angebot hab ich natürlich herzlich gerne angenommen. Erst setzten wir Gelati beim Hotel ab, dann fuhren wir zu ihrem Haus. Als wir ankamen, meinte Kathy, dass ich auch im Haus schlafen könne. Sie waren gerade dabei, wieder in ihr altes zu Hause einzuziehen. Denn seitdem Roger der Army vor 30 Jahren beigetreten ist, waren sie in allen möglichen Ecken der Erde. Die letzten 8 Jahre haben sie z.B. in Japan gelebt. Nach einem heißen Bad (mein erstes seit über 2 Monaten! ) fuhren wir zum Waynesburger, ein beliebtes Burger-Restaurant der Stadt und trafen uns dort mit Gelati und seiner Freundin. Ich bestellte den größten Burger, den es gab. Dazu eine Portion Pommes und einen Milchshake. Mann, war das gut! Erst gegen 22 Uhr verließen wir das Restaurant wieder. Für uns war das extrem spät, da wir sonst spätestens um 21 Uhr im Bett liegen. Aber für morgen ist ja ein Ruhetag geplant. Von daher geht das schon Ordnung :-)
Morgens holte Roger das wiedervereinte Pärchen zum gemeinsamen Frühstück ab. Bevor wir dazu kamen, etwas zu essen, wollte uns Kathy unbedingt durch das, für amerikanische Verhältnisse, sehr große Haus führen. Sie erzählte uns von all den vielen Renovierungsplänen, die ihr im Kopf herumschwirren. Ich kann mir vor meinem inneren Auge schon richtig vorstellen, wie toll das Ergebnis aussehen wird. Den Rest des Vormittags und die Hälfte des Nachmittags war ich leider damit beschäftigt, das Problem mit meinem Handy zu lösen. Bis vor 2 Wochen konnte ich einfach die SD-Karte der Kamera in ein Kartenlesegerät stecken und das per OTG-Kabel mit dem Handy verbinden. Ich bestellte ein neues Kabel, das brachte aber kein Erfolg. Der Adapter funktioniert am Laptop, daran kann es also auch nicht liegen. Was auffällt, ist die Tatsache, dass das Handy (bzw. dessen Speicher) nicht mehr am Laptop erkannt wird, sondern das Handy nur noch aufgeladen wird. Falls jemand einen Tipp hat, wäre ich sehr dankbar! Es handelt sich um ein Huawei Ascend Mate 7. Ich hab jetzt zwar eine Lösung gefunden, die ist aber mit ziemlich viel Aufwand verbunden. Aber genug zu dem Thema. Gegen 15 Uhr fuhren wir alle zu einem Pizza-Restautant. Roger und Kathy bestanden darauf, dass das Essen auf sie geht. Das war uns dann doch schon sehr unangenehm, weil die beiden bereits so viel für uns getan haben. Aber sie ließen sich nicht davon abbringen. Ich bestellte eine Pizza in der Größe “groß“, wie sonst auch immer. Aber mit der Größe hab ich nun wirklich nicht gerechnet. Der Durchmesser betrug mindestens 40 cm. Selbst ich konnte danach für den Rest des Tages nichts mehr essen. Gelati und Emily brachten wir zum Hostel zurück und fuhren danach zum Supermarkt, weil Kathy einkaufen musste. Wir waren gerade auf den Parkplatz gefahren, als keine 100 m von uns der Blitz einschlug. Sch**** war das angsteinflößend! Kathy war nach dem Erlebnis verständlicherweise nicht mehr nach shoppen zumute, weil sie das Auto auf keinen Fall verlassen wollte. Ich kann es ihr nur zu gut nachfühlen.
Wegen des unberechenbaren Wetters bin ich recht zeitig auf den Trail zurückgekehrt. Roger und Kathy brachten mich schon um 7 Uhr zu dem Punkt, wo wir vorgestern aufgehört haben. Ich kann den beiden gar nicht genug danken und hoffe, dass Roger mindestens genauso viel Hilfe und Gastfreundschaft erfährt, wenn er nächsten Jahr sein Thru-Hike antritt. Punkt 13:00 Uhr war ich bereits am Zielort angekommen. Aus Rücksicht auf Emily werden wir die kommenden 2 Wochen kurze Tage einlegen. Wobei Gelati ihr vorher gesagt hat, dass wir mindestens 15 Meilen pro Tag gehen. Mal sehen, ob sie das wirklich durchhält. Immerhin hat sie vorher ein paar Wochen trainiert. Übrigens hab ich mich heute (glaube ich zumindest) das erste mal verlaufen. Der Trail führte aus dem Wald heraus in einen großen Park. Wegweiser hab ich vergebens gesucht. Drum ging ich die Hauptstraße, die um den Park führte, einmal komplett entlang – ohne Erfolg. Die beiden Herren, die ich traf, konnten lediglich sagen, dass ich den Trail wiederfinden würde, wenn ich der Hauptstraße für 10 Minuten folgen würde. Gesagt getan; das war aber sicherlich nicht der offizielle Weg.
Die 15-Meilen-Regel pro Tag hat einen ganzen Tag gehalten. Mit 13 Meilen fiel der Tag sehr kurz aus. So hatten wir aber genügend Zeit, morgens in das vom Handbuch empfohlene Flamingo Restaurant zu gehen. Für nicht mal 7$ hab ich 3 riesige Pfannkuchen und Bacon bekommen. Bei den Massen an Essen, die ich täglich verschlinge, bin ich selbst schon ein bisschen verwundert, dass ich nicht zunehme. Aber lieber so, als die zahlreichen anderen Wanderer, bei denen die Kilos nur so purzeln. Das könnt ich mir gar nicht leisten, so schlank wie ich bin. Einige Männer sehen am Ende ihres Thru-Hikes aus wie Strafgefangene aus einem Konzentrationslager – kein Scherz! Die restlichen 10 Meilen zum Shelter vergingen recht schnell. Der Trail war zwar stellenweise ziemlich felsig, aber noch längst nicht so schlimm, wie uns vorher immer eingebläut wurde. Aber das kommt ganz bestimmt noch. Emily hatte ordentlich zu kämpfen. Nicht nur wegen der Distanz, sondern auch mit ihren Füßen, die die ersten Blasen bekommen haben. Ich hoffe nur, dass wir die Meilen nicht allzusehr herunterschrauben müssen. Denn zum einen sind die kurzen Tage recht langweilig, und zum anderen fühlt es sich für mich so an, als ob man auf der Stelle stehen bleibt und nicht vorankommt. Auf dem Trail war heute ordentlich was los. Die Boy Scouts trainierten für irgendein Event und waren deshalb in Scharen unterwegs. Ich kam vor ihnen am Shelter an, nicht aber Gelati und Emily. Glücklicherweise campten die Kids allesamt in ihren Zelten, sodass sie doch noch einen Platz abbekamen. Denn gegen 18 Uhr erreichten uns die Ausläufer eines Hurrikans aus Texas. Erst wurde es sehr dunkel, dann kam der erste kurze Regenschauer. Es folgte die Ruhe vor dem Sturm, bevor es plötzlich sintflutartig zu regnen begann und unaufhörlich blitze und donnerte. Der Stimmung tat das jedoch keinen Abbruch. Mit Goldstar, einem etwas verpeilt wirkenden und urkomischen Typen, hab ich mich super verstanden und bekam richtig Bauchschmerzen, weil wir soviel lachen mussten.
2 Monate und ein paar Tage ist es her, seitdem ich den ersten Fuß auf den AT setzte. Heute, am 21. Juni haben wir die 50% Marke erreicht! In der relativ kurzen Zeit hab ich soviel erlebt… all die schönen Dinge, wie z.B. die Bekanntschaften mit Wanderern und Trail-Angeln, bis hin zu den furchtbarsten Momenten, in denen ich voller Angst auf dem Gipfel eines Berges vor den heranrollenden Gewittern davonlief. Auch wenn ich diese Momente zu dem Zeitpunkt gehasst habe, so gehören sie doch ebenso zu diesem Abenteuer dazu und lassen einen erst so richtig lebendig fühlen. Ich hoffe, die zweite Hälfte wird mindestens genauso spannend und dass mein Körper weiterhin so gut mitspielt wie bisher. Denn auch wenn es immer heißt “wer es bis hierher schafft, dem gelingt auch der Thru-Hike“, so sollte man doch für jeden Tag dankbar sein, den man auf dem Trail verbringen kann. Denn ein dummes Missgeschick genügt schon und der Trip könnte zu Ende sein. Bis zum Pine Grove Furnace State Park bin ich zusammen mit Goldstar gegangen. Das ist der Heimatort der berühmten Half Gallon Challenge, bei der man eine halbe Gallone Eis (1,9L) essen muss. Für meinen Hiker-Hunger war das natürlich kein Problem :-) Als mir ein anderer Wanderer dann auch noch einen halber Burger schenkte, konnte ich nicht anders, als mir auch noch einen zu kaufen. Gelati wagte sich übrigens auch an die Challenge, musste aber bei der Hälfte aufgeben. Die Niederlage sah man ihm noch bis zum nächsten Tag an. Der Wetterbericht spielte zum wiederholten male total verrückt. Erst war ein schweres Gewitter für 14 Uhr angegündigt. Dann wurde es auf 16 Uhr verschoben und schließlich wusste keiner mehr, ob oder wann es kommt. Darum hielt ich mich nur kurz in dem AT Museum auf und machte mich anschließend auf den Weg. Kurz vor dem Shelter nutzte ich den Fluss, um mich mal wieder zu waschen. Soviel wie ich bei den Temperaturen schwitze, ist echt unnormal. Später hörte ich, dass die Abwässer von einem Kuhstall in den Fluss sickern. Aber selbst das roch immer noch besser, als mein eigener Gestank. Von daher war alles paletti :-) Der Abend war dank der Gesellschaft von den Two Bad Dogs und Goldstar wieder super. Leider werden wir sie in den nächsten Tagen wahrscheinlich nicht wiedersehen, weil kürzere Distanzen einlegen, um Emily nicht zu überlasten.
Ich kann mich Marcus nur anschließen: Herzlichen Glückwunsch zur Halbzeit.
In den zwei Monaten hast du mehr erlebt als viele Menschen in ihrem gesamten Leben. Und du hast dabei auch noch beachtlich Kilometer zurückgelegt.
Ich wünsche dir, dass du gesund bleibst auf deinem weiteren Weg und dass du auch mal anhältst, um dir deine Erfahrungen und die wunderschöne Landschaft bewusst zu machen.
Genieß die „letzte Hälfte“.
Dankesehr :) New Hampshire und Maine werden sicher wahnsinnig schön sein. Darauf freu ich mich schon, auch wenn es die härtesten Staaten sind :D
Herzlichen Glückwunsch zur Halbzeit.
Echt eine respektable Leistung!!!
Es ist dir auch anzumerken, dass du etwas ruhiger geworden bist. :-) Also im Vergleich zu den ersten Blog-Einträgen. Und so dankbar noch dazu … Jaja, so ein Abenteuer verändert einen doch schon …
Mach weiter so!!!
Viel Glück, Gesundheit und Motivation weiterhin.
Oh ja das stimmt. So ein Abenteuer verändert einen nachhaltig!
Danke für die Glückwünsche :-)