Das heutige Ziel war Boiling Springs. Auf dem Weg dorthin galt es wieder einmal, ein paar Kletterpassagen zu bewältigen. Beim sogenanntem Rock Maze, dem schwierigstem Teil, sah ich Turtle, wie er sich die Felsen hochquälte. Dafür, dass er mindestens 60 Jahre alt ist, hat er sich aber sehr gut geschlagen. Ich sah einen etwas leichteren Weg, kletterte einen Felsen hoch, und sprang zurück auf den Trail. Nur um danach das verdutzte Gesicht von Turtle zu sehen, der sich auf einmal hinter mir befand. Nach dem Abstieg ging es aus dem Wald heraus und ab ins Kornfeld. Es sah fast wie zu Hause aus. Viel wichtiger war mir aber, endlich mal was anderes zu sehen, als ständig nur Bäume. Kurz vor einem Maisfeld musste es irgendwo ein Wegweiser nach Westen gegeben haben. Aber weder ich, noch Mcfly, der kurz hinter mir ging, haben etwas gesehen. Dass wir falsch waren, wussten wir spätestens dann, als wir die Eisenbahnschienen erreichten und kein Wegweiser zu sehen war. Immerhin konnte ich sagen, in welcher Richtung die Stadt lag. Eine viertel Stunde später waren wir dann am Ortseingang von Boiling Springs. Das riesige Outdoor-Schwimmbad sah so verlockend aus. Da im Guidebook stand, dass man sich in der Touristeninformation einen 3$  Ermäßigungs-Coupon abholen kann, gingen wir zuerst dorthin. Die Coupons gab es zwar nicht mehr, der Weg hat sich dennoch gelohnt. Denn sonst hätten wir die Two Bad Dogs nicht getroffen, die für uns im `Allenberry Resort Inn` angerufen haben und fragten, ob noch ein Zimmer frei ist. Und in der Tat, ein Zimmer war noch frei. Das Spezialangebot für Wanderer lässt 2 Leute für je 20$ in einem Zimmer übernachten. Ich kann aber nicht sagen, ob die Putzfrauen von dem Angebot wussten. Sie schauten jedenfalls sehr komisch drein, als wir ihnen bestätigten, dass wir beide in dem Raum mit Kingsize Bett schlafen werden. Als ich wieder in die Stadt ging, welche ca. 10 Minuten entfernt war, sah ich bereits Gelati’s und Emily’s Rucksäcke vor der Touristeninfo. Art und Lynn (die Two Bad Dogs) waren ebenfalls dort und erzählten mir, dass die beiden bei dem Café sitzen. Eigentlich wollten sie auch im Resort Inn einchecken, aber leider war kein sauberer Raum mehr übrig. Drum mussten sie in den sauren Apfel beißen und im doppelt so teuren Hotel absteigen. Von innen soll es ziemlich gruselig ausgesehen haben, weil überall Puppen zu sehen waren. Inzwischen hing mir der Magen schon in den Kniekehlen, weshalb wir uns zum Pizza-Restaurant aufmachten. Dank Gelati’s unvergleichlichem Orientierungssinn gingen wir zunächst 10 Minuten in die falsche Richtung. Was normalerweise nicht schlimm gewesen wäre, aber der Pool des Resorts war nur noch für 2 Stunden geöffnet, in den ich noch unbedingt springen wollte. Die riesige Pizza verschlang ich deshalb regelrecht und kam mit ausreichend Zeit beim Pool an. Wie gut sich das anfühlt, mal wieder schwimmen zu können – einfach herrlich! Vor 23 Uhr kam ich jedoch nicht zu Bett, weil ich die Tage zuvor das Tagebuch Schreiben vernachlässigt habe…

Jemand sollte die amerikanischen Lokführer mal fragen, ob sie noch alle Tassen im Schrank haben. Wie kommt ein normal denkender Mensch sonst auf die Idee, alle 5 Sekunden zu hupen (hupen Züge?)? Vor allen Dingen in der Nähe einer Stadt. Von dem Krach wurde ich gleich mehrmals in der Nacht wach. Noch viel schlimmer muss es für die Hiker gewesen sein, die auf dem Campingplatz schliefen. Denn der, ihr ahnt es vielleicht schon, lag keine 50 Meter von den Eisenbahnschienen entfernt. Der Plan war eigentlich, um 7 Uhr auf dem Trail zu sein. Wäre da nicht das All-You-Can-Eat Frühstücksbuffet gewesen, hätte das auch geklappt. Die 6$ war es mir aber auf jeden Fall wert. Gerade als ich bezahlte um mich kurz darauf auf’s Buffet zu stürzen, kamen 30 junge Boyscouts zur Tür herein und plünderten fast das gesamte Essen. Die Köche waren jedoch auf Zack, sodass es beim zweiten Gang zum Buffet wieder die volle Auswahl gab. Mit 45 Minuten “Verspätung“ bin ich dann endlich losgewandert. Viel Zeit zum Bummeln blieb mir nicht, weil für den Nachmittag ein heftiges Unwetter vorhergesagt war. Als ich die Two Bad Dogs einholte, nahm ich das Tempo wieder raus, um eine Weile mit den beiden zu gehen. Sie gehören zu den angenehmsten Personen die ich kenne und es macht einfach nur Spaß, sich mit ihnen zu unterhalten. An einer Straße angekommen, sahen wir ein Schild, dass uns auf Trail-Magic hinwies. Auf der nächsten Auffahrt stand eine Kühlbox mit kalten Getränken – genau das richtige an diesem heißen Tag. McFly, der kurz danach eintrudelte, erzählte, dass er bereits 2 Zecken hatte. Von den kleinen Biestern geht eine noch viel größere Gefahr aus, als von den Bären. Meine lange, mit Permethrin getränkte Hose, hielt sie mir bisher erfolgreich vom Hals. Das war auch der Hauptgrund, warum ich mich in letzter Sekunde vor der Abreise gegen Shorts entschieden habe. Damit wäre es jedoch viel angenehmer zu wandern, weil man nicht so sehr schwitzt. Am späten Nachmittag wurde der Himmel grau, auch wenn keine Wolke weit und breit zu sehen war. Art meinte, dass das ein Vorzeichen des Unwetters sei, woraufhin ich im Eilschritt die letzten 8 Meilen zum Shelter zurücklegte. Als ich ankam, war in der Ferne der Donner im Sekundentakt zu hören. Bevor es richtig losging, verstrichen aber noch ein paar Stunden. Gelati und Emily waren immer noch nicht da, als es schließlich fürchterlich anfing zu blitzen und wie aus Eimern schüttete. Mit der Zeit machte ich mir schon ziemliche Sorgen und borgte mir Lynn’s Handy, um Gelati eine SMS zu schicken. Wenig später kam die Antwort: sie haben einen weiteren Ruhetag in Boiling Springs eingelegt, weil Emily von den vergangenen Tagen noch ziemlich geschafft war. Seit dem ersten Tag, an dem Gelati davon sprach, dass seine Freundin mit uns wandern will, hab ich mir schon gedacht, dass sowas passieren wird. Die Chance, dass er nochmal zu mir aufschließen wird, ist verschwindend gering. Da sie zum Ende ihres Aufenthalts garantiert 2 weitere Ruhetage einlegen werden, fällt er mindestens 100 Meilen zurück. Ich müsste schon sehr kurze Etappen einlegen, damit wir wieder zusammen wandern können. Und darauf hab ich in etwa genauso viel Lust, wie auf ein gebrochenes Bein am ersten Ferientag im Sommer. Mit den Two Bad Dogs haben wir den ganzen Abend hin und her überlegt, wie man die Situation am besten lösen könnte. Eine Idee war, dass Gelati und Emily zum nächsten Staat fahren, um die berühmt berüchtigten Felsen/Steine in Pennsylvania zu umschiffen. So hätte Emily nicht die “Ehre“, den unbeliebtesten Teil des Trails zu wandern. Ich würde die beiden dann weiter nördlich einholen und alles wäre paletti. Ehrlich gesagt glaube ich aber nicht, dass sie sich darauf einlassen.

Ich hab fast die ganze Nacht wach gelegen und überlegt was ich mache. Alleine zu wandern bringt zwar einige Vorteile mit sich, ist auf die Dauer aber recht langweilig. Drum überlegte ich, wer zu meinem Tempo passen könnte und ein cooler Zeitgenosse ist. Der erste der mir einfiel war Goldstar. Towanda, die eine ganze Weile mit ihm wanderte, konnte seine Emailadresse rauskriegen, weil ich ihn fragen wollte, wo er steckt. Passenderweise gingen wir heute nach Duncannon, sodass ich WLAN hatte, um die Mails an Gelati sowie Goldstar zu schicken. In der Bar des Doyle Hotels trafen sich alle Hiker des letzten Abends, sowie noch ein paar neue Gesichter. Um nicht rausgeschmissen zu werden, während ich den Strom und das Internet schnorrte, versuchte ich, etwas zu bestellen. Die einzigen 3 Speisekarten waren allerdings bereits vergeben und die Kellnerin kam auch nicht wieder auf mich zurück. Was aber auch nicht weiter schlimm war, weil ich nicht unbedingt Geld ausgeben wollte. Bei meinem Resupply hab ich ohnehin 4 Dosen Spaghetti mit Fleischbällchen gekauft. Als ich sie draußen vor dem Hotel essen wurde, kam der energische Besitzer heraus und scheuchte mich fort. Also aß ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einer Garage und hatte einen wunderbaren Ausblick auf die Rückseite des Hotels. Im Vorfeld machten schon die wildesten Geschichten die Runde über das Hotel. Für Leute, die eine Studie über Bettwanzen durchführen wollen, scheint das jedenfalls ein echter Geheimtipp zu sein! Am Nachmittag ging ich nur noch 6 weitere Meilen zum Shelter. Die Sonne war wieder erbarmungslos und der Trail stellenweise extrem felsig. Ein Stein, der zunächst stabil aussah, kippelte plötzlich und brachte mich dazu, vorne überzufallen. Ich konnte mich gerade noch mit den Händen abfangen und somit schlimmeres verhindern. Um 18 Uhr war das Ziel erreicht und ich überlegte, ob ich noch die 6 Meilen zum nächsten Shelter gehen sollte. Immerhin wollte ich ja Goldstar einholen, der vermutlich einen recht großen Vorsprung hat. Stattdessen entschied ich mich dazu, heute mal sehr früh ins Bett zu gehen, um den bitter benötigten Schlaf nachzuholen.

Fast 10 Stunden hab ich geschlafen und war wieder top fit. Auf dem Tagesplan standen 25 Meilen, die sehr felsig sein sollen. Es gab zwar ein paar tückische Stellen, aber zum größten Teil war das Terrain sehr einfach und flach. Selbst die Temperaturen waren erstaunlich niedrig, was das Wandern deutlich angenehmer machte. Das einzige, was mir den Tag vermieste, war ein dummer Fehler meinerseits. Wegen der bevorstehenden Felsen habe ich gestern meine Schuhe fester gebunden, als üblich. Anscheinend zu fest, weil mein linker Fuß am Knöchelansatz auf einmal verdammt schmerzte. Mit dieser Art von Verletzung hatte ich noch gar keine Erfahrung gemacht und hoffte, dass es schnell wieder besser wird. Meine Stimmung hat sich schlagartig gebessert, als ich völlig unerwartet Goldstar am Ende des Tages wiedertraf. Er hat es sie letzten Tage ebenfalls langsam angehen lassen, weil er sich mit seinem Kumpel treffen will, um 2 Tage mit ihm zu wandern. Danach will er die Distanzen wieder hochschrauben, mit dem Ziel, Mitte August anzukommen – genau wie ich.

Goldstar und ich sind morgens zusammen losgegangen und kamen gleich an 2 Trail-Magic Ständen vorbei. Beim ersten sahen wir in ca. 50 m Entfernung einen jungen Bären über die Straße laufen und in die Wälder verschwinden. Nicht nur vor den vielen Bären in Pennsylvania hat man uns gewarnt, sondern auch vor den Klapperschlangen. Deshalb passte ich noch mehr auf als sonst, wo ich hintrat. Was bei den Steinfeldern ohnehin von Nöten war, weil viele von den Steinen lose waren und man schnell die Balance verlieren konnte. Übrigens fühlte sich mein lädierter Fuß schon wieder viel besser an und ich konnte im gewohnten Tempo wandern. Und so erreichten wir das Shelter schon gegen 15 Uhr. Die Hiker dort brachten uns sofort auf den neusten Stand des Wetterberichts. Morgen soll es einen furchtbaren Sturm mit Winden von 100 km/h geben, gepaart mit 5 cm Niederschlag. Goldstar rief seinen Kumpel an, berichtete ihm von dem schlechten Wetter und kam danach mit einem neuen Plan zurück. Statt zu wandern, wird er mit seinem Kumpel nach Philadelphia fahren und dort gleich noch ein paar andere alte Freunde treffen. Er bot mir an mitzukommen und versprach, dass wir Sonntag früh wieder auf dem Trail sein werden. Ich dachte mir,  ein bisschen Abwechslung kann nie schaden und wirklich Lust, in dem Sturm zu wandern, hatte ich auch nicht. Also saßen wir wenig später im Auto und düsten den Highway entlang. Philadelphia ist die 10. größte Stadt Amerikas und ein echter Kulturschock zu dem Leben auf dem Trail. Die Leute gingen mit leeren Gesichtern durch die Straßen, alles war viel hektischer und die Sirenen der Polizeiautos waren ständig in der Ferne zu hören. Da wurde mir erstmal klar, wie sicher der Trail doch ist. Und ein Teil von mir wünschte sich, wieder dort zu sein.

Zum Frühstück gingen wir in eine, wie ich sie nennen würde, “Fresshalle“. Wie Hühner in Käfighaltung drängelten sich tausende Menschen auf kleinstem Raum durch die Gänge, um sich an einem der ca. 100 Essensständen vollzustopfen. Als ich durch die Tür ging, traf mich fast der Schlag. Um ein Haar wäre ich fast wieder auf der Türschwelle umgedreht. Hätte mein Magen nicht so fürchterlich geknurrt, hätte ich das auch sofort getan. Stattdessen ging ich planlos von einem Stand zum nächsten und war von der schieren Menge an Angeboten völlig überwältigt. Am Ende landete ich an einem Burgerstand, was nicht gerade ein typisches Frühstück war, aber ziemlich gut schmeckte. Da es am Nachmittag regnen sollte, guckten wir uns danach die Stadt ein wenig an und trafen uns schließlich in einer Bar mit Goldrush’s alten Freunden. Mein persönliches Highlight war jedoch, mit Xavier `Forza` (ein Rennspiel) zu spielen. Wir hatten ein paar richtig spannende Rennen und beinahe hätte ich vergessen, dass es morgen wieder zurück in die weiten Wälder geht.

Wie versprochen, waren wir Sonntagfrüh um 9 Uhr wieder auf dem Trail. Es war der Tag nach dem großen Sturm. Überall lagen abgebrochene Zweige und Äste herum. Nach den ersten hundert Metern wurde das Terrain sehr hässlich. Meilenweit zogen sich die Steine und Felsen hin, sodass man extrem aufpassen musste, wo man hintritt. Später bestand die Herausforderung darin, den Pfützen auszuweichen. Die Pfützen verwandelten sich mit der Zeit in kleine Flüsse und letztendlich in kleine Seen. Von daher veränderten sich meine Bemühungen von “möglichst trockene Füße behalten“ zu “nicht in die tiefsten Wasserstellen treten“. Trotzdem stand ich  manchmal bis über die Knöchel im Wasser. Daran kann man schon erahnen, wie schlimm das Unwetter gestern war. Die meisten Hiker, die ich traf, legten einen Zero-Day ein, um nicht wandern zu müssen. Von daher haben wir überhaupt nichts verpasst. Und obwohl Philadelphia definitiv nicht zu meinen Lieblingsorten gehört, war ich dennoch froh, dort hinzufahren. Alleine schon, weil Goldstar’s Freunde allesamt super nette Zeitgenossen sind. Wo wir gerade von Goldstar sprechen: ich hatte ihn seit dem Morgen nicht mehr gesehen. Als ich abends in Port Clinton am öffentlichen Pavillon ankam und dort mein Nachtlager aufschlug, fuhr glücklicherweise Trail-Angel Mary mit ihrem Bus vor und bot uns eine Fahrt in die Stadt an, um Essen einzukaufen. Das ersparte uns eine Menge Zeit am nächsten Tag. Der verloren geglaubte Goldstar tauchte erst auf, als ich mich schon zum Schlafen hingelegt hatte. Mann, war ich froh ihn wiederzusehen! Denn gute Gesellschaft auf dem Trail macht echt den Unterschied zwischen einem guten und einem durchschnittlichen Erlebnis aus. Ganz zu schweigen von der Motivation, die den Bach runtergeht, wenn man niemanden hat, mit dem man sich gut versteht und vor allen Dingen regelmäßig wiedertrifft. Es mag ja Leute geben, denen es nichts ausmacht, sich jeden Tag fremden Leuten vorzustellen und ständig über dieselben oberflächlichen Sachen zu quatschen. Aber ich gehöre definitiv nicht denen. Außerdem ist es doch viel schöner, mit jemandem über Wochen hinweg all die verrückten Sachen hier draußen gemeinsam zu erleben und sich später bei einem Wiedersehen daran zu erinnern. Für mich persönlich wäre es jedenfalls ziemlich deprimierend, wenn ich alleine das Ziel erreichen würde. Denn auf so einer langen Reise wie dieser, ist es nicht der Weg alleine, der den Reiz ausmacht. Sicherlich ist die Landschaft schön und es macht Spaß, in der Wildnis unterwegs zu sein. Den Hauptanteil machen, jedenfalls für mich die Freundschaften aus, die man knüpft.

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