Auf den heutigen Tag, bzw. das Shelter, wo wir übernachteten, habe ich mich besonders gefreut. Baltimor Jack hat es uns bereits in Neel Gap empfohlen. Es handelt sich dabei um eine alte, umgebaute Scheune mit atemberaubendem Blick auf ein Tal. Auf dem Weg dorthin, passiert man zudem das am höchsten gelegene Shelter des gesamten AT’s. Ein kleiner, dafür aber sehr beschwerlicher Schleichpfad, führt abseits des Trails zu dem Unterschlupf, das vielmehr einem Haus gleicht. Der Abstieg des Berges, auf dem es sich befand, war eine Qual für den in Zehenschuhen laufenden Gelati, weil der Untergrund aus kleinen Steinen bestand, die sich ohne weiteres durch die dünnen Sohlen bohrten. Das war auch der Grund warum er mich an dem Tag nicht einholte. Nur wusste ich das lange Zeit nicht und ging stattdessen davon aus, dass er mich bereits überholt hatte, weil anscheinend jemand kurz vor mir eindeutige Fußabdrücke im Schlamm hinterließ. Als ich um 14 Uhr am Shelter ankam, war mein erster Gedanke, dass er in seinem Speedrausch die nicht ausgeschilderte Abzweigung zum Shelter ebenfalls übersehen hat. Mir erging es kurz zuvor ebenso. Dass irgendetwas nicht stimmte, realisierte ich dann, als der vermeintlich kurze Anstieg immer weiter führte und so gar nicht ins Höhenprofil passte. Von dort oben konnte ich dann auch die Scheune sehen. Mann, hab ich geflucht! Zumal der Aufstieg unter diesen Bedingungen einiges an Kraft gekostet hat. Nach einer Stunde Warten, tauchte er dann aber doch noch auf. Wir konnten nur von Glück reden, dass wir schon so früh angekommen sind, denn am späten Nachmittag brach das bisher schwerste Gewitter herein. Ein paar Mal krachte es mit ohrenbetäubendem Lärm sofort nach dem Blitz. Die Leute, die da noch auf dem Trail waren, konnten einem richtig leidtun. Gegen Mitternacht begann die zweite Runde – der ganze Himmel wurde zeitweilig von den vielen Blitzen erhellt.
Der nächste Morgen sah zunächst ganz freundlich aus. Den ersten Berg hinauf hatte ich auch noch ein gutes Gefühl. Beim darauffolgenden sah die Welt, oder besser gesagt der Himmel, ganz anders aus. Die Wolken wurden immer dunkler, und der Trail führte über einen kahlen Bergkamm. Sprich, ich war den Elementen so ausgeliefert, wie man nur hätte sein können. Als ich auf der Hälfte des Weges nach links schaute, sah ich es blitzen und kriegte es so richtig mit der Angst zu tun. Denn die Wolken bewegten sich mit einem Wahnsinnstempo direkt auf mich zu und ich würde mindestens noch 15 Minuten bis zum Gipfel brauchen. Also nahm ich die Beine in die Hand und rannte solange wie ich konnte den Berg rauf. Oben angekommen, musste ich feststellen, dass es mindestens noch eine weitere Meile auf dem Bergkamm weiterging. Da mir die Sache dann doch zu heiß wurde, verließ ich den Trail und ging ca. 50 Meter seitlich den Hang runter. Dort war ich neben den Büschen zumindest nicht mehr der höchste Punkt auf dem Berg. Das bedeutete zwar, dass die Hose durch die Dornensträucher ziemlich in Mitleidenschaft gezogen wurde, das war mir in dem Moment aber sowas von egal. Ich wollte einfach nur den verdammten Berg in einem Stück wieder runterkommen. Als ich die Stelle erreichte, die zurück in den Wald und Richtung Tal führte, wurde mein Körper quasi mit Glückshormonen überschwemmt. Unter den Bäumen fühlt man sich gleich 100x sicherer als auf einer offenen Wiese. Es stellte sich letztendlich heraus, dass die Wolken ohne Regenschauer oder Gewitter weiterzogen. Aber hinterher ist man immer schlauer. Dank der ganzen Rennerei erreichte ich den Highway lange vor Gelati. Wir mussten beide nach Roan Mountain, um neues Essen zu kaufen und hatten mal wieder richtig Glück, sofort jemanden zu finden, der uns dorthin fährt. In der Poststelle schickte ich, bis auf das Fleece-Oberteil, alle Warmwetter-Sachen und ein paar andere Kleinteile zu Charly’s Schwester. Damit beträgt das Basisgewicht des Rucksacks knappe 5 kg. Das Essen und Trinken wiegt ungefähr nochmal so viel. Nach dem Einkaufsbummel im Supermarkt trampten Gelati und ich zurück zum Trail und gingen für ein paar Stunden gemeinsam. Als wir an einem Fluss ankamen, konnte ich nicht anders, als ein erfrischendes Bad zu nehmen und den ganzen Schweiß abzuwaschen. Kurz nach der Abkühlung erreichten wir die 400 Meilen-Marke. Damit sind es nur noch 1800, umgerechnet ca. 2900 km. Das Gute daran war, dass der leichtere (nicht leichte!) Teil des Trails bald beginnt. Denn bisher ging es in den allermeisten Fällen entweder bergauf oder bergab. Kein Wunder, dass bereits viele Wanderer aufgegeben haben. Das merkt man vor allen Dingen an den vergleichsweise leeren Sheltern, und den Leuten, denen man begegnet. Anfangs waren eine Menge schräger Vögel auf dem Trail. Übrig geblieben sind fast nur noch die vernünftigen. So z.B. die 3 Veganer Cheyanne, Colton und Stevie. Zum wiederholten Male haben wir uns dasselbe Tagesziel ausgesucht. Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr wünschte ich mir, dass wir uns noch öfter begegnen.
Den nächsten Morgen ging ich wieder alleine in aller Früh los. Nicht nur hat man so eine extra Stunde Zeit in angenehmen Temperaturen zu wandern, sondern auch eine größere Chance, Tieren zu begegnen. Diesmal kam ich gerade um eine Ecke, als ein Reh keine 10 Meter vor mir stand. Des Weiteren sah ich die erste Schlange auf dem Trail. Im Schatten der Bäume war sie quasi unsichtbar, weshalb ich auch fast auf sie drauf getreten wäre. Ab dem Zeitpunkt passte ich besonders auf wo ich hintrat, weil ich keinen blassen Schimmer habe, welche von ihnen giftig sind. Da wir nicht weit von den Laurel Wasserfällen, einer regelrechten Touristenattraktion, entfernt waren, gab es mehrere Wanderwege. An irgendeiner Stelle muss ich eine Wegmarkierung übersehen und den direkten Weg zum Shelter genommen haben. Gelati kam auf dem richtigen Weg, zeigte mir ein paar Fotos und berichtete, wie steil der Trail dorthin ist. Das war mir dann doch zu viel Aufwand, beschloss einen auf faul zu machen und stattdessen im Shelter die Beine hochzulegen. Eigentlich wollte die Veganer-Truppe ebenfalls hierher kommen, aber anscheinend haben sie ihre Pläne geändert. Dafür trudelten Backtrack und Sashay ein, die sichtlich überrascht waren, uns wiederzusehen. Schließlich wollten wir Freitag in Damascus ankommen. Also 49 Meilen in 2 Tagen. Das war aber noch alles in unserem Zeitplan. Für morgen waren 22,6 Meilen geplant, und für den Tag darauf 26,3 Meilen.
Auf der Höhenprofil-Karte sah die heutige Etappe relativ leicht aus. Mal abgesehen von dem ersten Anstieg, der fast senkrecht abgebildet war. Kurz nach dem Shelter wurde ich sofort durch 2 Wegweiser verwirrt, wobei einer nach links zeigte, und der andere nach rechts. Ich ging ca. 10 Minuten, bevor ich die ersten Zweifel bekam, und kehrte schließlich um. Als mir Gelati entgegen kam, war klar, dass es doch die richtige Richtung war. Der vermeintlich steile Anstieg stellte sich als relativ harmlos heraus, weshalb wir uns in Hampton eine Menge Zeit ließen, um nochmal ein bisschen Essen zu kaufen. Und hätten wir um 14 Uhr nicht noch 16 Meilen vor uns gehabt, wären wir nur zu gerne am Strand geblieben und wären baden gegangen. In der schwülen Nachmittagshitze quälten wir uns die leichten Berge hoch, während uns der Schweiß den Rücken nur so runterlief. Getoppt wurde das Ganze von einem 800 Meter super steilen Abstieg zu einer Wasserquelle, der den steilsten Bergen, die wir bisher bestiegen haben, ernsthafte Konkurrenz machte. Als das Tageslicht schon zu verschwinden begann, trafen wir endlich im Shelter ein. Ich war so k.o., dass ich nur noch ins Bett wollte. Ein Ar******* von Section-Hiker hatte aber nichts Besseres zu tun, als sich in normaler Lautstärke, keine 2 Meter von unseren Köpfen, über allen möglichen Sch*** zu unterhalten. Um 23:30 ging er endlich schlafen. Oder, ich sollte besser sagen, er legte sich hin, um die ganze Nacht rumzurascheln, zu schnarchen und mich damit die ganze Nacht wachzuhalten. Und das vor dem längsten Tag, der morgen bevorstand.
Der letzten ruhelosen Nacht entsprechend, lief ich einem Zombie gleichend die Marathondistanz nach Damascus. Vor einer Wiese mit Kühen trafen wir Stevie wieder, der gestern Nachtwandern wollte und nach einer SMS von Colton doch nicht im Dunkeln durch die Kuhherde ging. Denn genau das hat Colton getan und hat sich beinahe in die Hose gemacht, als die vielen Augen um ihn herum das Licht seiner Stirnlampe reflektierten. Nach dem ersten Stopp ging ich den Rest des Tages alleine. Mir war sowieso nicht nach quatschen zumute und trottete stattdessen vor mich hin ohne viel nachzudenken. Die einzige Sache, die ich beachten musste, war genügend Wasser für eine bevorstehende Strecke von 13 Meilen mitzunehmen. Laut dem Guidebook war die letzte Wasserstelle hinter einem Shelter gelegen. Das erste Shelter, was zugegebener Maße sehr sehr klein war, hatte aber leider keine Wasserstelle, weshalb ich schon einen leichten Schweißausbruch bekam. Ich dachte mir, dass eventuell noch ein richtiges Shelter mit mehr als 2 Schlafplätzen auf dem Weg liegt. Gelati, den ich während seiner Mittagspause einholte, war sich ziemlich sicher, dass es kein weiteres Shelter bis Damascus gibt. Da ich fast kein Wasser mehr übrig hatte, fühlte ich mich quasi gezwungen nochmal zurückzugehen und gründlicher zu suchen. Die paar vorhandenen Trampelpfade führten allesamt ins Nirvana. Mit leeren Händen kehrte ich zurück und sah mich schon die nächsten 3-4 Stunden mit trockener Kehle den Trail entlang schlurfen. Stevie, der inzwischen aufgeschlossen hatte und den Abschnitt schon einmal gegangen ist, konnte mich beruhigen, denn die Wasserquelle und das dazugehörige Shelter war noch eine halbe Stunde entfernt. Dort angekommen, traf ich Colton, der seinerseits auf Stevie wartete. Die beiden legten eine Pause ein, während ich schon Richtung Stadt vorausging. An 361 Tagen im Jahr wohnen dort höchstens 1000 Leute. Während den Trail-Days, dem größten Event für Wanderer auf dem AT, verzwanzigfacht sich die Zahl. Gelati, der schon vorausging, um rechtzeitig zur Post zu kommen, war bereits in der Menschenmenge verschwunden. Deshalb wollte ich nicht auch noch Colton und Stevie verlieren und wartete auf die beiden. In einem Café fanden wir Cheyanne wieder und gingen erstmal was essen. Keine 10 Minuten später tauchte Gelati auf. Gemeinsam suchten wir uns ein Platz in der Stadt zum Campen. Die Alternative wäre die Zeltstadt, wo sich die meisten Leute aufhielten. Dort wird aber pausenlos gefeiert und wenig Rücksicht auf müde Hiker genommen. Von daher waren wir schon ganz gut im Garten einer kirchlichen Organisation aufgehoben, wo es vorgeschriebene Ruhezeiten gab.
Samstag hatte ich meinen allerersten Zero-Day: ein Tag ohne auch nur eine einzige Meile auf dem Trail zu laufen. Die meiste Zeit des Tages habe ich damit verbracht, mir sehr interessante Vorträge von AT Thru-Hiker anzuhören und konnte so noch ein paar gute Tipps und Tricks aufschnappen. Außerdem nahmen wir an der Hiker-Parade teil, wo mindestens ein paar tausend Leute durch die Straßen der Stadt zogen und von den Anwohnern mit Wasserpistolen nass gespritzt wurden. Das war definitiv einer der schönsten Tage bisher und es hat mal richtig gut getan, einen auf faul zu machen.
Gelati, der bei mir im Zelt (Tarp) geschlafen hat, hat den Abend zuvor wohl zuviel gegessen und ist nachts plötzlich aus dem Zelt gestürmt und musste sich kurz danach vor Stevie’s Zelt übergeben. Ich ließ ihn morgens noch bis 8:30 Uhr schlafen, bis ich nicht länger in der Stadt auf schlechtes Wetter warten wollte. Der Wetterbericht für die nächsten Tage war nämlich ausgesprochen schlecht: Regen und Gewitter, hauptsächlich nachmittags zu erwarten. Darum versuchte ich das Tempo hochzuhalten und so schnell wie möglich zum Shelter zu kommen. Was dann auch klappte. Auf dem Weg dorthin sah ich meine erste Schnappschildkröte und 2 weitere Schlangen. Aber niemand konnte mir anhand der Bilder sagen, ob sie giftig waren. Das angekündigte schlechte Wetter ließ übrigens bis zum Abend auf sich warten, und zum Glück blieb uns das Gewitter erspart.

 

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