Als ich Gelati den Vorschlag unterbreitete, heute 25 Meilen zu gehen, wusste ich noch nicht, wie heiß es werden würde. Denn in den frühen Morgenstunden war es wegen des starken Windes ziemlich kalt. Und bis zum Mittag war es auch noch relativ angenehm. Die letzten 8 Meilen wurden dagegen zur echten Tortur. Nicht nur war es brütend heiß; das felsige Terrain zwang einen dazu, sehr langsam zu gehen, wenn man sich nicht die Knochen brechen wollte. Ich war total k.o. als ich endlich ankam. Gelati brauchte in seinen Schuh eine Stunde länger, weil er viel mehr aufpassen musste. Anderen Wanderern zufolge sieht es in Pennsylvania für 200 Meilen so aus. Sozusagen war es heute schon mal ein kleiner Vorgeschmack. In den nächsten Tagen werde ich mich auf jeden Fall etwas ausruhen müssen, bevor wir wieder die langen Distanzen gehen können. Denn anders als uns in den ersten Wochen immer versprochen wurde, ist Virginia alles andere als einfach. Wirklich flach wird es laut der Höhenprofil-Karte aus dem Reiseführer erst in 400 Meilen.

Angedacht war ein Ruhetag mit nur 18 Meilen. Für mich wurde daraus jedoch ein Tag der Prüfung. Morgens war es schon so schwül-warm, sodass es geradezu nach Gewittern stank. Beim letzten Anstieg zogen schon dunkle Wolken auf. Das Problem war, dass es für 6 Meilen oben auf dem Bergrücken entlangging. Unter dem Blätterdach fühlte ich mich zwar nicht absolut sicher, aber definitiv nicht mehr so ängstlich wie in den Anfangstagen. Als der Trail plötzlich verschwand, stand ich mit offenem Mund da. Man musste aus dem Schutz der Bäume heraus und eine kleine Felswand hochklettern, nur um danach auf der kahlen Seite des Berges auf glitschigen Steinhängen weiterzugehen. Ein wahrer Alptraum für mich, weil die dunklen Wolken inzwischen direkt über meinem Kopf hinwegzogen. Um es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen, rannte ich über die besagten rutschige, nasse 200 m lange Passage. Insgesamt 4x bin ich auf die linke Hüfte gefallen. In dem Adrenalin-Rausch merkte ich allerdings nichts von den etwaigen Schmerzen. Nachdem der erste Part überstanden war und es zurück in den Schutz des Waldes ging, war ich heilfroh. Das dumme war, dass es noch 3 weitere solcher Abschnitte gab. Und jedes mal sahen die Wolken bedrohlicher als aus. Ziemlich ausgepowert kam ich letztendlich beim Shelter an. Keine 5 Minuten später fing das Gewitter an. Gelati, der ein gutes Stück hinter mir ging, war zu dem Zeitpunkt gerade oben auf dem Berg. Er berichtete mir später, wie die Blitze über ihm am Himmel zuckten. Selbst er, der sich sonst nichts aus Gewittern macht, hatte die Hosen voll.

Nach dem Schock von gestern und dem Gerede der anderen Wanderer über den kommenden gewaltigen Gewitterstrurm aus Texas, wollte ich heute so früh möglich starten und möglichst schon mittags am Four Pines Hostel ankommen. Denn um dort hinzukommen, man glaubt es kaum, muss man über einen Berg klettern. Aber nicht irgendeinen Berg, sondern den Dragons Tooth, zu Deutsch Drachenzahn. Der Aufstieg war zwar anstrengend, hat sich aber richtig gelohnt! Wer den Mut hat, kann dort auf einen der beiden ca. 15-20m hohen Felsen klettern. Das hab ich mir natürlich nicht nehmen lassen und wagte den heiklen Aufstieg. Bis ganz nach oben bin ich allerdings nicht gegangen. Schließlich brauch ich meine gesunden Knochen noch ein paar Jahre. Der Abstieg des Berges stellte alles bisherige in den Schatten. Als ich die zum Teil vertikalen Wände mit den winzigen Vorsprüngen als Aufstandsflächen sah, verstand ich, warum einige Wanderer den Berg umgehen. Das war auch das erste Mal, dass ich eine in den Felsen verankerte Leitern auf dem Trail sah. Zum Glück hat es nicht geregnet. Denn wenn die Steine nass gewesen wären, wüsste ich nicht, wie man dort heil herunter kommen soll. Wo wir gerade vom Wetter sprechen – außer bedrohlich aussehenden Wolken ist nichts gewesen. Soviel zu dem Gewittersturm aus Texas. Das Four Pines Hostel war übrigens richtig klasse. Joe Mitchell, der Eigentümer, hat seine Garage vor 15 Jahren in ein gemütliches Plätzchen mit Pool-Tisch, einigen Couchen, Feldbetten, einer Küche und Dusche für dreckige Hiker umfunktioniert. Da es auf Spenden basierte, verbrachten einige Leute gleich mehrere Tage dort. Essen gab es in der nahegelegenen Tankstelle, zu der wir alle paar Stunden gefahren wurden. Und das beste war, dass ich endlich mal genügend Zeit hatte, um meine Sachen zu waschen. Das letzte Mal lag schon wieder 11 Tage zurück, wie man unschwer riechen konnte.

Auf den heutigen Tag habe ich schon seit Ewigkeiten gefreut. Der Grund war McAfee Knob, ein Felsvorsprung vor einer fantastischen Kulisse. Gelati und ich kamen gerade noch rechtzeitig an, um gute Lichtverhältnisse für die Fotos zu haben. Für mich war es auf jeden Fall das absolute Highlight des bisherigen Trips. Aber es liegen ja auch noch fast 1500 Meilen vor uns, da kann noch so einiges kommen. Nachmittags mussten Gelati und ich einen Plan schmieden, wo wir uns mit seiner Freundin in 3 Wochen treffen wollen. Sie möchte für 2 Wochen mit ihm/uns wandern und wollte nun wissen, wo wir uns treffen. Ein Flugticket nach Washington D.C. war schon gebucht. Da wir vorher noch die 4 State Challenge machen wollen, bei der man seinen Fuß innerhalb von 24 Stunden in 4 verschiedene Staaten setzten muss, entschieden wir uns für die nächst größere Stadt danach. Das bedeutet bis dahin einen gemütlichen Tagesdurchschnitt von 18 Meilen. Gelati hat seiner Freundin schon vor einiger Zeit gesagt, dass sie mit dem Training beginnen soll, damit wir wenigstens 15 Meilen täglich schaffen und nicht zu weit aus dem Zeitrahmen fallen. Das Terrain wird zwar sehr flach sein, aber für jemanden, der vorher noch nie gewandert ist, kann das dennoch eine Herausforderung darstellen. Abends gab es noch eine schöne Überraschung. Gerade als ich in den Schlafsack steigen wollte, bemerkte ich, wie sich etwas Längliches aus der Steinwand herausschlängelte. Schnell bewegte ich Gelati dazu aufzustehen, der halb ausflippte, als er die Schlange sah. Wir hatten keine Ahnung, um welche Art es sich handelte, konnten den nächsten Tag aber zumindest feststellen, dass sie nicht zu den giftigen Schlangen gehörte. So oder so verzogen wir uns aus dem Shelter für die Nacht und campten davor.

Dank des Besuchs von gestern Abend sind wir leider nicht so früh wie ursprünglich geplant losgekommen. Darum kamen wir etwas zu spät für das Frühstücksbuffet beim Chinesen an. Die Alternative war das Pizzabuffet ab 11:30 Uhr. Solange konnten wir aber nicht mehr warten und gingen stattdessen in ein Fastfood-Restaurant. Wir haben die Zeit zugegebenermaßen nicht optimal genutzt. Hätten wir uns ein Platz ausgesucht, wo ich WLAN gehabt hätte, hätte er dort seine unzähligen Telefonate tätigen können und keiner von uns hätte untätig rumgesessen. Mit dem Einkaufsbummel, einem Besuch im Café und in der Pizzeria brauchten wir insgesamt 8 Stunden – neuer Rekord. Es war schon so spät geworden, dass wir nur noch bis zum 5 Meilen entfernten Shelter gehen konnten. Das bedeutete, dass der Folgetag ungewollt lang wurde. Statt der 20 Meilen wurden daraus 27 Meilen. Selbst schuld!

Um die Marathondistanz zu schaffen, ging es früh los. Was nicht so schön war, war die schlechte Wasserversorgung unterwegs, weshalb ich stets beide Wasserflaschen auffüllte, wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte und trank zusätzlich noch einen Liter vor Ort. Um die Wegausschilderung stand es nahe eines Highways auch nicht so gut. Weil ich den Pfeil nicht schon beim ersten Mal sah, ging ich für ca. 10 Minuten in die falsche Richtung. Bei der Mittagspause traf ich die 3 Wanderer, die seit Springer Mountain in Georgia allen Müll aufsammeln, den sie auf dem Trail finden. Über 200 kg haben sie seitdem schon zusammengetragen und den Trail dadurch ein gutes Stück ansehnlicher gemacht – super Arbeit, Jungs! Nach fast 10 Stunden auf den Beinen erreichte ich endlich das Shelter. Mit seinen 20 Schlafplätzen das größte in ganz Virginia. Es glich einem kleinen Haus mit 2 Etagen und zählt definitiv zu meinen Lieblings-Sheltern.

Vor dem heutigen Tag hatte ich ein bisschen Respekt. Das Höhenprofil sah verdammt eklig aus. Als der schwerste Part schon nach 4 Stunden überstanden war, ging es fast nur noch bergab, was immer ziemlich auf die Knie geht. Auf einmal hörte ich ein ganz komisches Geräusch, das immer weiter auf mich zukam. Ein Huhn-ähnliches Federvieh ist auf mich zugestürmt, bevor es schließlich erkannt hat, dass es gegen einen Menschen nicht viel ausrichten kann und ist zurück in den Wald gerannt. Das war mal merkwürdig! Gegessen habe ich wie so oft während des Wanderns und legte auch sonst keine Pausen ein, sodass ich schon sehr früh am Shelter ankam und endlich mal dazukam, die Tagebucheinträge der letzten Tage nachzuholen.

 

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