Erst um 9:30 Uhr bin ich heute gestartet. Das Highlight des Tages versprach eine kleine Kreuzfahrt zu werden. Zunächst einmal führte der Jakobsweg für eine Stunde auf einem Strand entlang. Der weiche Untergrund war eine echte Wohltat für die geschundenen Füße. Die letzten Tage führten fast ausschließlich über asphaltierte Straßen oder Wege, was ihnen ganz und gar nicht gut bekommen ist.

An der nördlichsten Spitze des Strandes wartete schon wie bestellt ein kleiner Kutter. Obwohl ich der einzige Passagier war, schmiss der Kapitän den Motor an und setzte über. Am anderen Ufer angekommen, hatte ich die Wahl zwischen dem direkten Weg oder dem empfohlenen, weil schöneren, Umweg über die Halbinsel. Voll motiviert hab ich natürlich die zweite Variante genommen. Wegen der schlechten Ausschilderung bin ich allerdings nicht an den angepriesenen Sehenswürdigkeiten vorbeigekommen und hab stattdessen eine Abkürzung durch die Mitte genommen.

Wieder unten am Strand angekommen, hat der Wind ordentlich zugelegt. Was dann folgte, ließ die Begegnung mit dem bissigen Hund von gestern wie ein Kindergeburtstag aussehen. Der Camino schlängelte sich eine Felswand entlang, die allerhöchste Konzentration erforderte. Ein falscher Schritt und man würde den Abhang herunterfallen. Einmal hab ich den Wanderstock zu weit rechts aufsetzen wollen, woraufhin er über dem Abgrund baumelte. Spätestens hier war ich über den leichten Rucksack heilfroh. Mit dem 25 kg Monstrum hätte ich das höchstwahrscheinlich nicht heil überstanden. Nach einer halben Stunde fand die Kletterei zum Glück ein Ende und ich stand wieder auf sicherem Boden. Unnötig zu sagen, dass mir da ein riesen Stein vom Herzen fiel.

Am Nachmittag folgte Hundeattacke Nummer 2: in einer kleinen Ortschaft lag eine Hündin samt Welpen auf der Straße. Trotz des übertrieben großen Bogen, den ich um sie machte, ging die Hündin auf mich los. Das Messer hatte ich längst gezückt und war zu allem bereit, wenn sie mich anspringt. Soweit ist es dann glücklicherweise doch nicht gekommen. Der altbewährte Trick mit Großmachen und langsam zurückweichen hat wieder einmal Wunder bewirkt.

Die Ausschilderung auf den folgenden Kilometern war grottenschlecht. Eine Stunde bin ich durch die Gegend gezogen, ohne überhaupt zu wissen, ob ich mich noch auf dem Jakobsweg befinde. Umso größer war dann die Erleichterung, als doch endlich ein Pfeil zu sehen war. Ohne den Kompass als grobe Orientierungshilfe hätte ich mich sicher verlaufen. Irgendwann endete der Schotterweg vor einer großen Wiese auf der gerade gedüngt wurde. Ein Stein am Ende des Weges hatte einen gelben Pfeil aufgemalt, der Richtung stinkender Wiese zeigte, was ich wiederum für einen weiteren schlechten Scherz hielt. Stattdessen folgte ich einem Waldweg immer bergauf. Als er in die Richtung führte, aus der ich kam, entschloss ich mich doch für den Weg über die Wiese. Und tatsächlich, dahinter lag ein Dorf mit weiteren Wegweisern. Weit konnte es nicht mehr sein, bis die Herberge in Sicht ist – hoffte ich zumindest. Die Füße sind derartig angeschwollen, dass die Zehen bei jedem Schritt vorne anschlagen. Zwei von ihnen waren schon ganz taub.

Der Weg zog und zog sich noch weitere 2 Stunden hin, bevor die ersehnte Zuflucht in Güemes endlich erreicht war. An der Tür wurde ich gleich lautstark von Ugnius, einem jungen Mann mit Rauschebart begrüßt: „You are Victoras, right?“ Leider musste ich ihn enttäuschen. Victoras sei ein Landsmann aus Litauen, den er schon seit Tagen versucht einzuholen. Die Leute in den Herbergen beschrieben ihn als großgewachsenen, militärisch aussehenden Kerl mit großem Messer sein. Also genau so, wie ich derzeit rumlief. Als ich mich in der Albergue umschaute, merkte ich schnell, dass sie sich deutlich von den anderen unterscheidet. Diese hatte irgendwie eine ganz besondere Atmosphäre. Der Herbergsvater, ein 78-jähriger Pastor, eröffnete sie vor 30 Jahren, an jeder Ecke findet man Erinnerungen an lang zurückliegende Reisen und Erlebnisse. Gemeinsam saßen wir am Kamin vor einem prasselnden Feuer, als er uns seine Geschichte und die des Hauses erzählte: wenn er einmal von der Welt geht, wird es verkauft und mit dem Geld Menschen aus Südamerika geholfen. Auf seiner 27 monatigen Reise durch diese Länder ist ihm klar geworden, dass unser Wohlstand nur auf der Armut der anderen Länder beruht. Deshalb liegt es ihm sehr am Herzen, ihnen etwas zurückzugeben.

Beim Abendessen unterhielt ich mich noch mit Ugnius und erfahr, dass er mit 2 Spaniern wandert – Igor und Guillermo. Beides sehr nette Typen, nur soll Guillermo ein fürchterlicher Schnarcher sein. Und 3x dürft ihr raten, wer im Bett neben mir schlief! Zu später Stunde berichtete eine der beiden freiwilligen Helferinnen der Herberge von ihrem einjährigen Aufenthalt in Afghanistan. Ich konnte manchmal gar nicht recht glauben, was dort noch für Bedingungen herrschen: Wenn ein fremder Mann eine verheiratete Frau ohne Verschleierung ansieht, darf der Ehemann den anderen Mann erschießen – einfach so! Homosexualität gibt es offiziell nicht, darauf steht bis zu 15 Jahre Haftstrafe. Trotzdem sieht man an jeder Ecke Männer, die Händchen halten, oder sich küssen. Für sie als freiwillige Mitarbeiterin einer gemeinnützigen Organisation war die Gefahr leider ein ständiger Begleiter. Das hinderte sie jedoch nicht daran, aus den strengen Sicherheitsvorkehrungen auszubrechen, um sich unter die Leute mischen zu können. Es war definitiv ein spannender Vortrag, und sicherlich ist das Land auch interessant. Aber die Gefahr ist leider immer präsent.

 

 

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